Erklärung des Zinses nach Eugen von Böhm-Bawerk[Bearbeiten]
Der österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) untersuchte als einer der ersten das Zinsphänomen systematisch. Bei der Untersuchung der Frage, weswegen man überhaupt Zinsen verlangt, stellte er fest, dass das Einkommen im Lauf des Lebens ansteigt und man daher für heute verliehenes Geld in Zukunft auch mehr zurück erwartet, da man sonst nicht bereit wäre, durch das Verleihen von Geld sparsamer sein zu müssen.
Zweitens beobachtete Böhm-Bawerk, dass Menschen ihre zukünftigen Bedürfnisse meist unterschätzen und Geld lieber sofort ausgeben („Gegenwartspräferenz“). Um sie dennoch zum Verleihen zu bewegen, müsse man ihnen als Ausgleich Zinsen anbieten.
Der dritte Grund für das Verlangen von Zinsen ist nach Böhm-Bawerk darin zu sehen, dass Arbeit bei der Herstellung von Maschinen sehr nützlich eingesetzt wird, indem sie gewissermaßen in einen Produktionsumweg geleitet werden kann. Wenn Arbeiter eine Maschine produzieren, kann hinterher mehr damit hergestellt werden, als die Arbeiter vorher leisten konnten. Es entsteht eine „zusätzliche Ergiebigkeit“, ein Produktivitätszuwachs, und ein Gläubiger kann vom Schuldner erwarten, ihn „angemessen“ daran zu beteiligen. Zinsen lassen sich danach aus der zusätzlichen Ergiebigkeit der auf einen Produktionsumweg geleiteten Arbeit erklären. Um die Arbeiter im Voraus zu entlohnen, benötigt der Unternehmer Kapital, wofür er Zinsen zahlen muss und aus der zusätzlichen Ergiebigkeit der Arbeit auch zahlen kann. Böhm-Bawerk wollte so mit einer eigenen Erklärung des Zinses ein bedeutendes Argument des Marxismus entkräften, wonach der Zins Teil des Mehrwerts ist, der wiederum durch Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten gewonnen wird.
Der Zins ist – nach Böhm-Bawerk – nicht der Preis des Geldes, sondern der Preis für die Zeit und belohnt den Verleiher für eine hypothetische Verschiebung seines Konsums.
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? Kapital und Kapitalzins (1884–1902)[Bearbeiten]
Von Böhm-Bawerk trug in Kapital und Kapitalzins wesentlich zur Entwicklung einer subjektivistischen Kapital- und Zinstheorie bei. Menschliches Handeln bezeichnet für ihn jedes willensgesteuerte Verhalten des Menschen. Die Ziele dieses Handelns werden frei gewählt und durch frei gewählte Mittel, die subjektiv für das Ziel geeignet erscheinen, zu erreichen versucht. Wert und Nützlichkeit beschreiben dabei die psychische Wertschätzung des Zieles und des Mittels. Ziele und Mittel sind nicht objektiv gegeben, sondern Ergebnis des unternehmerischen Handelns des Menschen. Als Resultat der Willensbetätigung des Menschen stellt dieser, oft unbewusst, Pläne auf; ein Plan ist eine geistige Vorschau über das stufenweise Erreichen von Zielen in der Zeit. Zeit ist für ihn nicht im physikalischen Sinne zu verstehen, sondern eine Kategorie der Wirtschaftswissenschaften für das menschliche Handeln.[23] Menschliches Verhalten hat stets ein Ziel. Von diesem Ziel ist der Mensch durch die Zeit getrennt. Den Einsatz von Zeit wertet der Mensch weniger als das zu erreichende Ziel. Er zieht dabei, ceteris paribus, bei zwei Bedürfnissen gleichen Wertes das früher zu erreichende dem später zu erreichenden vor (Gesetz der Gegenwartspräferenz).[23]
Kapitalgüter sind Zwischenetappen in jedem Handlungs- und Produktionsprozess. Was Kapitalgüter sind, hängt von der subjektiven Betrachtung ab. Kapitalgüter dienen stets einem Ziel, das heißt, sie sind Güter höherer Ordnung (auch „Produktionsmittel“). Kapitalgüter können die natürlichen Ressourcen, Arbeit und Zeit sein, die durch die unternehmerischen Fähigkeiten des Menschen genutzt werden.[23] Conditio sine qua non für die Erzeugung von Kapitalgütern ist das Sparen, das heißt der Verzicht auf unmittelbaren Konsum. Böhm-Bawerk erläutert dies am Beispiel Robinson Crusoes: Dieser sammelt zu seiner Ernährung jeden Tag Brombeeren. Durch einen Akt kreativer unternehmerischer Wissensschöpfung stellt er fest, dass er durch Zuhilfenahme eines Stockes höhere Äste biegen kann und somit mehr Brombeeren in kürzerer Zeit ernten kann. Einen geeigneten Stock zu finden und ihn zu bearbeiten, würde etwa fünf Tage dauern. Da er in dieser Zeit keine Brombeeren ernten kann, muss er für diese Zeit durch Sparen und zusätzliche Ernte vorsorgen, was etwa zehn Tage dauern würde. Die Akkumulation von Kapitalgütern entstehe somit durch Abwägung der bestmöglichen Ausnutzung von Gegenwart und Zukunft. Begeht der Kapitalist einen unternehmerischen Fehler, so erweist sich der Konsumverzicht als nutzlos.[23] In modernen Volkswirtschaften habe sich die Aufgabe des Kapitalisten in keiner Weise demgegenüber geändert: Wenn die Wirtschaftsabläufe auch komplexer und der Zeithorizont wesentlich länger sei, so liege das wesentliche Merkmal des Kapitalisten im Sparen. Der Unterschied zwischen reichen und armen Nationen liege in der Höhe des in der Zeit angesparten Kapitalstockes.[23] Unter Kapital versteht Böhm-Bawerk den Wert der Kapitalgüter in Marktpreisen. Da in sozialistischen Wirtschaftsordnungen keine Märkte und somit auch keine Preise vorhanden seien, sei keine Wirtschaftsrechnung möglich und es existiere folglich auch kein Kapital.[23]
Die Wertschätzung von Gütern ist von Mensch zu Mensch und auch beim selben Menschen in der Zeit unterschiedlich. Folglich komme es durch Gütertausch zu einem Markt. Der Zins erkläre sich aus dem Zusammenspiel von Kapitalgütern und der Zeitpräferenz: Wenn manche Menschen Kapitalgüter in der Gegenwart höher einschätzen als Kapitalgüter in der Zukunft, so komme es auch hier zu einem Markt. Menschen, die Kapitalgüter in der Gegenwart niedrig bewerten, verzichten auf diese und geben sie an Menschen, die diese in der Gegenwart hoch einschätzen. So verzichte der Kapitalist auf einen Teil seines Konsums, um Arbeitern, aber auch Eigentümern der Produktionsmittel Kapital zur Verfügung zu stellen. Die unternehmerische Bewertung des Werts der Zeitpräferenz drücke sich in Marktpreisen aus: dem Zins. Der Zins sei zentral für die Produktionsstruktur einer Gesellschaft, wobei der Kreditmarkt nur ein geringer Teil dieses Marktes sei.[23] Die Kapitaltheorie Böhm-Bawerks stellt für einige Beobachter den bleibenden Kern der Österreichischen Lehre dar;[24] andere hingegen sehen Inkonsistenzen mit Mengers subjektivistischem Ansatz.[25][26]
? Kritik an Marshall, Marx und Clark[Bearbeiten]
Parallel zum Methodenstreit führte Böhm-Bawerk einen Streit mit Alfred Marshall. Dieser sah den Preis als durch die historisch gegebenen Kosten determiniert, also als objektiv gegeben an. Böhm-Bawerk sah hingegen die Kosten als Ergebnis des Preises an (subjektive Kostentheorie).[23]
Die Österreichische Schule begann bereits früh, sich mit dem Marxismus auseinanderzusetzen; ihre Vertreter lehnen dabei jede Art von Sozialismus und Zentralverwaltungswirtschaft ab. Dies geht vor allem auf Böhm-Bawerk zurück, der in seinem Werk Kapital und Kapitalzins (1884–1902) Mengers Werk erweiterte und dabei die Arbeitswerttheorie von Karl Marx – die für den Marxismus als grundlegend gilt – systematisch zu widerlegen versuchte, während viele andere Ökonomen sich erst nach der Oktoberrevolution 1918 mit dem Marxismus zu beschäftigen begannen. Böhm-Bawerk behauptete als erster die Inkonsistenz der Arbeitswerttheorie im ersten und dritten Band von Marx' Das Kapital.[27] Der Streit fand bei von Mises und von Hayek seine Fortführung im Streit um die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus.[23]
Böhm-Bawerk wandte sich vor allem gegen Marx’ Theorie von der „Ausbeutung“ der Arbeiter. Tatsächlich würden die Eigentümer der Produktionsmittel den Arbeitern helfen, da sie diesen den Lohn bereits im Voraus zahlen würden. Marx ignoriere den Faktor Zeit und die Zeitpräferenz. Er überschätze zudem den Faktor Arbeit. Die Arbeitswerttheorie Marx' sei zirkulär. Der technische Fortschritt ersetze nicht die menschliche Arbeit, er mache sie nur produktiver und sorge somit für die Erhöhung des Kapitalstocks und des Wohlstandes. Er wandte sich gegen Marx' Krisentheorie des Kapitalismus: Warum solle der Kapitalist weiterproduzieren trotz sinkender Profitrate?[23]
Auch durch seine Kritik an Marx wurde er bald zum bekanntesten Vertreter der Österreichischen Schule. Von marxistischer Seite betrachtete man diese bald als den Inbegriff bürgerlicher Marx-Kritik. Nikolai Bucharin versuchte diese Kritik von marxistischer Seite zu widerlegen.[28] Rudolf Hilferding nahm 1906 an einem von Böhm-Bawerks Seminaren teil.[23]
Böhm-Bawerk wandte sich auch gegen die Kapitaltheorie John Bates Clarks und Walras’, die er als „mystisch“ und „statisch“ bezeichnete. Kapital führe nicht als solches zu einem Zins („value jelly“). Es müsse dazu unternehmerisch sinnvoll eingesetzt werden.[23]
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